Rede der Niedersächsischen Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann zu TOP 20 Aktuelle Stunde der Fraktion der AfD: „Immer jüngere Täter, immer schwerere Taten: Schutzplanke Strafrecht anpassen!“
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 11. Dezember 2024
Es gilt das gesprochene Wort!
„Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
diese aktuelle Stunde ist eigentlich ganz dankbar, weil sie – mal wieder – Gelegenheit gibt, einige Dinge klarzustellen.
Was Sie hier suggerieren, ist entweder weltfremd oder nicht ganz ehrlich.
Sie tun so, als ob man einfach nur das Strafmündigkeitsalter senken und die Strafen erhöhen sollte – und dann würden plötzlich weniger Kinder und Jugendliche straffällig werden.
Das ist einfach sachlich falsch und das wissen Sie auch.
Und dass Sie das auch noch auf dem Rücken der Opfer von Straftaten tun, die Sie hier für Ihre Zwecke instrumentalisieren, steht wirklich sittlich auf niedrigster Stufe.
Vielleicht gucken Sie mal ins Jugendgerichtsgesetz. Da heißt es in § 2: „Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.“
Erziehung steht also im Vordergrund.
Kinder und Jugendliche sind keine kleinen Erwachsenen.
Kinder und Jugendliche sind Menschen, die sich in der Entwicklungsphase befinden – und zwar nicht nur körperlich, sondern gerade auch geistig, seelisch, psychisch, kognitiv. Kindern und Jugendlichen ist es geradezu immanent, sich in ihrer Entwicklung auszuprobieren und Grenzen auszutesten. Aufgabe der Erwachsenen in unserer Gesellschaft – in erster Linie der Eltern, aber auch der KiTa, der Schule, anderer Erziehungspersonen, aber auch unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure des Staates – ist es, den Kindern und Jugendlichen diese Grenzen aufzuzeigen und nötigenfalls die passenden Konsequenzen folgen zu lassen, wenn diese Grenzen überschritten werden.
Das nennt man Erziehung.
Und genau dieser Gedanke liegt auch dem JGG, dem Jugendgerichtsgesetz, zu Grunde. Und das absolut zu Recht.
Das JGG sieht vor, dass Straftaten von Jugendlichen mit denjenigen Maßnahmen begegnet wird, die die Jugendlichen in Zukunft zu einem Leben ohne Straftaten befähigen. Und da geht das JGG selbstverständlich davon aus, dass man unterschiedlichen Straftaten unterschiedlich begegnen muss.
Und dieses Recht wenden die niedersächsischen Staatsanwaltschaften und die niedersächsischen Jugendrichterinnen und Jugendrichter auch sehr sorgfältig und mit großem Augenmaß bezogen auf den jeweiligen Einzelfall an.
Im Klartext: Unsere Richterinnen und Richter sehen nicht nur die einzelne Straftat, sondern insbesondere den einzelnen Jugendlichen dahinter. Sie berücksichtigen die familiären und schulischen Gegebenheiten, die möglichen sozialen Probleme und die sonstigen Herausforderungen, die dazu geführt haben, dass dieser junge Mensch strafbar geworden ist. Und dann finden unsere Richterinnen und Richter eine gute rechtsstaatliche Lösung, die für den Jugendlichen zwar auch eine Strafe, aber auch eine Hilfe darstellt.
Das kann eine Erziehungsmaßregel wie eine Weisung oder auch ein Zuchtmittel wie ein Jugendarrest von bis zu vier Wochen sein.
Und in schweren Fällen kann Jugendstrafe verhängt werden – also die Freiheitsentziehung in unserer Jugendanstalt. Die Verhängung von Jugendstrafe sieht das Gesetz allerdings nur dann vor, wenn der Jugendliche schädliche Neigungen aufweist oder wenn wegen der Schwere der Schuld die Jugendstrafe erforderlich ist.
Und wenn Sie meinen, dass deutlich mehr Jugendliche hinter Schloss und Riegel sitzen müssten, dann verkennen Sie nicht nur das Gesetz, sondern schießen auch deutlich über das Ziel hinaus.
Wollen Sie allen Ernstes jeden sechzehnjährigen Mofaschrauber und jeden vierzehnjährigen Schwarzfahrer für Jahre wegsperren?
Und glauben Sie allen Ernstes, dass solche Jugendlichen, die sich nur leichte Verfehlungen haben zu Schulde kommen lassen, dadurch schneller wieder rechtstreu werden, dass sie in der Jugendanstalt monate- oder jahrelang mit anderen Straftätern in Kontakt kommen?
Und was die schweren Straftäter betrifft: Ja, die sitzen in aller Regel bei uns in der Jugendanstalt. Und das ist auch richtig so. Aber auch bei diesen Jugendlichen und Heranwachsenden ist die Sanktion am Erziehungsgedanken auszurichten.
Und das steht nicht nur im Gesetz, sondern das ist auch die einzig vernünftige Herangehensweise, wenn man das erreichen will, was sicherlich absoluter Konsens ist – nämlich, dass der straffällig gewordene Jugendliche künftig ein straffreies Leben in der Gesellschaft führt.
Das erreicht niemand durch reines Wegsperren. Das erreicht man nur durch Erziehung – die dann eben in der Jugendanstalt stattfindet.
Und wenn Sie allen Ernstes meinen, auch Kinder künftig einsperren zu wollen, um Straftaten von unter 14jährigen zu verhindern, dann sind Sie auf dem Holzweg. Ja, wir müssen der zunehmenden Delinquenz von Kindern begegnen. Aber nicht mit den Mitteln des Strafrechts.
Das Strafrecht tritt erst dann auf den Plan, wenn die Straftat schon begangen wurde. Wenn wir Straftaten verhindern wollen, dann müssen wir präventiv tätig werden. Das gilt im Übrigen auch für Jugendliche und für Erwachsene.
Umso mehr gilt es aber für Kinder, die im Übrigen ganz überwiegend mit leichten Straftaten auffallen.
Was die Gesellschaft braucht, sind Menschen, die hinschauen, die zuhören, die sehen, wenn bei einem Kind etwas aus dem Ruder läuft und die Eltern damit womöglich überfordert sind. KiTa, Schule, Jugendhilfe, aber auch Nachbarn und Freunde. Menschen, die die richtige Maßnahme für das Kind treffen, bevor es auf die schiefe Bahn gerät.
Und wenn dennoch ein Kind tatsächlich eine schwere Straftat begeht, dann bleibt das im Übrigen auch nach dem geltenden Recht keineswegs ohne Folgen.
Die Begehung von Straftaten kann ein wichtiger Hinweis auf das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung sein. Wenn eine solche Kindeswohlgefährdung durch die Eltern nicht abgewendet wird, ist das Familiengericht anzurufen, das eine freiheitsentziehende Unterbringung anordnen kann. Das passiert auch in derartigen Fällen. Auch unter 14jährige, die eine schwere Straftat begangen haben, bekommen also eine erhebliche Konsequenz zu spüren – denn was kann für ein Kind einschneidender sein als die Herausnahme aus der Familie und die Unterbringung in einer Einrichtung?!
Um gleichwohl nicht nur zu reagieren, sondern auch weiterhin präventiv tätig werden zu können, haben wir im Rahmen der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und –minister im November 2023 mit einstimmigem Beschluss den Bundesminister der Justiz gebeten, eine bundesweite Studie zu den Ursachen der gestiegenen Kinder- und Jugendgewalt in Auftrag zu geben.
Sie sehen, wir haben die Problematik im Blick. Uns geht es dabei um die Sicherheit der Bevölkerung, die wir sowohl durch Prävention als auch durch ein angemessenes Jugendstrafrecht erreichen werden.
Einer unsachlichen Skandalisierung auf dem Rücken der Opfer bedarf es dazu nicht.
Vielen Dank.“
Artikel-Informationen
erstellt am:
11.12.2024
Ansprechpartner/in:
Frau Verena Brinkmann
Nds. Justizministerium
Pressesprecherin
Am Waterlooplatz 1
30169 Hannover
Tel: 0511 / 120 5044