Rede der Niedersächsischen Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann im Bundesrat zu TOP 14 „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs - Verbesserung des Schutzes vor sexueller Belästigung“
Sitzung des Bundesrates am 22. November 2024
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte/r Herr/Frau Präsident/in,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
was muss eigentlich strafbar sein?
Ein Verhalten, das lästig oder nervig ist?
Mit Sicherheit nicht.
Ein Verhalten, das unmoralisch oder sittlich anstößig ist?
Auch das nicht.
Aber ein Verhalten, das die Intimsphäre eines anderen Menschen tief verletzt und das diese Person in ihrer künftigen Lebensführung beeinträchtigt?
Wohl ja.
Oder doch nicht?
Das Strafrecht hat fragmentarischen Charakter.
Das heißt: Es schützt nicht alle Rechtsgüter – und selbst die geschützten Rechtsgüter schützt es nicht umfassend, sondern nur gegen manche Angriffsarten. Und das ist auch richtig so.
Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichts ist ein Verhalten nur dann strafwürdig, wenn es über sein Verbot hinaus besonders sozialschädlich, für das geordnete Leben unerträglich und seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.
Was aber ist besonders sozialschädlich, für das geordnete Leben unerträglich und besonders dringlich zu verhindern?
Das ändert sich naturgemäß laufend – ebenso wie sich die Gesellschaft ständig ändert.
Das Strafrecht ist immer ein Spiegelbild der Gesellschaft.
Was früher strafwürdig erschien, muss es heute nicht mehr sein – und andersrum.
Bis 1969 war der Ehebruch nach § 172 StGB unter bestimmten Voraussetzungen strafbar, das ist heute undenkbar.
Dafür durfte ein Mann seine Ehefrau früher ungestraft vergewaltigen – auch das ist heute zum Glück andersherum undenkbar.
Zu Recht ist es in weiten Teilen der Bevölkerung heute nicht mehr akzeptiert, wenn Menschen zum bloßen Objekt der sexuellen Phantasien eines anderen herabgewürdigt werden. Das ist verabscheuungswürdig. Und es kann in einer Gesellschaft, die auf der gleichen unantastbaren Würde aller Menschen beruht, nicht geduldet werden.
Trotzdem ist auch eine ganz erhebliche verbale sexuelle Belästigung heute, Ende 2024, in der Bundesrepublik Deutschland nicht strafbar. Noch nicht – denn das wollen wir mit diesem Gesetzentwurf ändern.
Ich will Ihnen einen Fall schildern, der von der Formulierung her deutlich krasser war und den ich aus Rücksicht auf das Hohe Haus umformuliere:
Im Jahr 2016 sprach ein 63-jähriger Mann ein ihm unbekanntes elfjähriges Mädchen auf offener Straße an und forderte es auf, mit ihm zu kommen, weil er an ihr Geschlechtsteil fassen wolle.
Zwei Tage später sprach er eine ihm unbekannte 75-jährige Frau an und sagte zweimal unvermittelt, er wolle den Geschlechtsverkehr an ihr ausüben.
Wiederum kurze Zeit später sprach er eine 63-jährige Frau auf einem Wanderweg an und sagte, er wolle ihr Geschlechtsteil lecken.
Alle Formulierungen waren deutlich drastischer.
Der Mann wurde in allen drei Fällen angezeigt. Es wurden Strafanträge gestellt.
Aber: Nach dem Beschluss des Bundesgerichtshofes war keine dieser drei Taten strafbar. Insbesondere befand der BGH, dass kein Beleidigungsdelikt vorliege, weil der Angeklagte das Mädchen und die Frauen mit seinen Äußerungen nicht habe herabsetzen wollen. In den Aufforderungen des Angeklagten sei keine ehrverletzende Kundgabe der Missachtung zu sehen.
Es liegt mir mehr als fern, den Bundesgerichtshof zu kritisieren.
Wenn das Verhalten des Angeklagten nach der Auffassung des BGH nicht unter den Straftatbestand der Beleidigung fällt, dann es das so hinzunehmen.
Dann ist aber auch ganz klar: Hier ist die Gesetzgebung gefordert.
Die absolut widerlichen, vulgären Aufforderungen des 63-jährige Mannes waren das Gegenteil eines Kompliments – wer so etwas glaubt, hat die grundlegenden Regeln menschlichen Zusammenlebens nicht verstanden.
Ein solches Verhalten löst Angst aus.
Ein solches Verhalten ist geeignet, Frauen und Mädchen tief zu verletzten.
Betroffene Frauen und Mädchen – oder auch Männer und nonbinäre Menschen – fühlen sich herabgesetzt, zum bloßen Objekt der schmutzigen sexuellen Phantasien eines anderen degradiert.
Sie nehmen Schaden in ihrer weiteren Entwicklung.
In ihrer Lebensführung.
Viele von ihnen gehen nicht mehr alleine raus, suchen bestimmte Orte nicht mehr auf, ziehen bestimmte Kleidungsstücke nicht mehr an.
Nicht die Täter ändern ihr Leben, sondern die Opfer.
Das kann und das darf nicht sein.
Ein solches Verhalten ist besonders sozialschädlich, für das geordnete Leben unerträglich und seine Verhinderung ist daher besonders dringlich.
Wir schlagen daher vor, den § 184i StGB dahingehend zu erweitern, dass eine erhebliche verbale oder nonverbale sexuelle Belästigung künftig unter Strafe gestellt wird.
Und ich betone: Eine erhebliche Belästigung.
Damit ist klar, dass nicht jedes bloße Hinterherpfeifen und auch nicht jeder missglückte Flirtversuch strafbar sein sollen. Wir sind sehr für eine normale zwischenmenschliche Kommunikation und gerade diese soll auch weiterhin ungestört möglich sein.
Aber da, wo die Schwelle der Erheblichkeit überschritten wird, da, wo der Täter so tief in die Rechte einer anderen Person eingreift, dass er diese vergleichbar mit einer Beleidigung verletzt, da soll der Täter nicht länger straflos bleiben.
Das ist sowohl ein Signal an die Opfer, denen wir sagen: „Ihr seid im Recht! Das braucht Ihr Euch nicht gefallen zu lassen!“
– als auch ein Signal an die Täter, denen wir sagen: „So nicht. So ein niederträchtiges, abwertendes, sittlich auf unterster Stufe stehendes Verhalten dulden wir nicht.“
Die Gesellschaft steht auf der Seite der Frauen, der Mädchen und aller anderen Personen, die sich friedlich und frei in unserem Land bewegen wollen – nicht auf der Seite der Täter.
Ich hoffe auf gute Beratungen im Rechtsausschuss und auf eine breite Unterstützung.
Vielen Dank.
Artikel-Informationen
erstellt am:
22.11.2024
Ansprechpartner/in:
Herr Dr. Marcel Holthusen
Nds. Justizministerium
Pressesprecher
Am Waterlooplatz 1
30169 Hannover
Tel: 05111205043