„Mehr Respekt, mehr Zivilcourage, mehr Wachsamkeit!“
Antisemitismusbeauftragter legt ersten Jahresbericht vor / Übergabe an Ministerin Havliza
Die Niedersächsische Justizministerin Barbara Havliza hat heute in Hannover aus der Hand des Landesbeauftragten gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens, Dr. Franz Rainer Enste, dessen ersten Jahresbericht entgegengenommen.
Bei der Übergabe zugegen waren auch der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen, Michael Fürst, und die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover und Antisemitismus-Beauftragte des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden, Dr. Rebecca Seidler.
Justizministerin Havliza betonte die Relevanz des Berichts und der Arbeit des Landesbeauftragten: „Franz Rainer Enste hat seit seiner Berufung eine herausragend wichtige Arbeit geleistet. Er hat sofort erkannt, worauf es ankommt. Für einen erfolgreichen Kampf gegen den heutigen Antisemitismus mit seinen breitgefächerten Erscheinungsformen brauchen wir einen breiten Schulterschluss und ein mutiges Eintreten aller staatlichen Behörden und von allen Teilen der Gesellschaft. Es braucht massiven Widerstand gegen immer wieder artikulierte Vorurteile sowie gegen verbale Ausschreitungen und tätliche Angriffe auf jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Der nunmehr vorgelegte Jahresbericht bildet eine gute Grundlage für eine stärkere Vernetzung. Und er ist eine gute Basis für weitere Ideen und Initiativen.“
Der Jahresbericht ist hier abrufbar.
Der nun der (Presse-)Öffentlichkeit vorgestellte Bericht steht ganz bewusst unter der Überschrift „Jüdisches Leben in Niedersachsen – bereichernd und schützenswert“. In seinem Jahresbericht erläutert Franz Rainer Enste zum einen die Schwerpunkte seiner Tätigkeit seit seiner Berufung durch das Landeskabinett im Herbst 2019. Zum anderen gibt er für das Land Niedersachsen einen Überblick über die beeindruckende Vielfalt des derzeitigen jüdischen Lebens und über die aktuellen Erscheinungsformen von Antisemitismus.
Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts liegt in einer Darstellung der zahlreichen Maßnahmen und Initiativen von Staat und Zivilgesellschaft zur Bekämpfung von Antisemitismus. In diesem Zusammenhang nimmt die Darstellung der vom Landes-Demokratiezentrum geförderten Projekte einen ebenso breiten Raum ein wie die im Zuge von „321-2021. 170 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ stattfindenden Vorhaben. Gerade letztere seien - so Enste - ein überzeugender Beweis dafür, dass das Judentum im Allgemeinen und die jüdische Kultur im Besonderen das Leben in Niedersachsen nachhaltig bereicherten und dieser ungeheure Schatz daher gezielt gehoben werden müsse.
Enste betont im Rahmen der Vorstellung des Jahresberichts, dass der Kampf gegen den Antisemitismus auf der Grundlage einer Gesamtstrategie auf zahlreichen unterschiedlichen Feldern geführt werden müsse und dass es gerade auch angesichts der derzeitigen politischen Rahmenbedingungen darauf ankomme, neben den „klassischen“ Instrumentarien der Prävention und Strafverfolgung gerade auch auf dem Feld der (politischen) Bildung und der antisemitismuskritischen schulischen Erziehung gänzliche neue kreative Ansätze zu verfolgen und umzusetzen.
Enste: „Antisemitismus begegnet uns heute nicht nur in den altbekannten Erscheinungsformen. Vielmehr kommt er immer mehr ‚nicht im offenen Visier‘ daher, sondern in Gestalt von chiffrierten Botschaften, die es unbedingt zu erkennen gilt. Wir müssen uns mit diesen neuen Einfallstoren antisemitischen Denkens stärker auseinandersetzen, eine erhöhte Wachsamkeit an den Tag legen und entsprechende Gegenstrategien entwickeln.“
Auch wenn bereits viel gegen Antisemitismus unternommen werde, so müsse bedauerlicherweise ebenso festgestellt werden, dass Antisemitismus weiterhin präsent sei und ein latent größer werdendes Problem darstelle. Was über Jahrhunderte hinweg zu einer geradezu genetischen Anlage geführt habe und in der Wirtschaftswunder-Euphorie letztlich nur höchst unvollkommen und halbherzig aufgearbeitet worden sei, lasse sich nicht mit einem Federstrich beseitigen.
Der Landesbeauftragte setzt sich auch mit dem Umstand auseinander, dass Antisemitismus in Formen daherkomme, die in einer freiheitlichen Gesellschaft mit den Mitteln des Strafrechts nicht oder nur sehr schwer zu fassen seien. In diesen Fällen sei genau diese freiheitliche Gesellschaft umso mehr gefordert.
Enste: „Strafrechtlich nicht verfolgbare antisemitische Vorkommnisse müssen von Beobachterinnern und Beobachtern vor Ort angesprochen werden, diese Forderung richtet sich an alle Lehrenden an der öffentlichen Schule und den Hochschulen, an die Mitarbeitenden in der öffentlichen Verwaltung und an Polizistinnen und Polizisten. Es muss sich von selbst verstehen, dem rassistisch und antisemitisch geprägten Vorurteil zu widersprechen, egal ob es als Posting in den sozialen Netzwerken oder als vermeintlicher Witz in der Mittagspause auftritt. Betroffenen gilt es, Mut zu machen, sich an die Polizei zu wenden, oder den Vorfall zumindest der Dokumentationsstelle RIAS zu melden und sich an die Betroffenenberatungen zu wenden. Antisemitismus darf nicht unbeachtet bleiben.
Als Landesbeauftragter plädiert Enste deshalb insbesondere auch für umfangreiche Aus- und Fortbildungsangebote sowie für entsprechende Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich: „Natürlich müssen sich auch Kirchen, Gewerkschaften, Sportvereine, Verbände und die vielen anderen Träger unseres zivilgesellschaftlichen Lebens dieser Aufgabe stellen. Nicht zuletzt sollte die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erscheinungsformen jüdischen Lebens und den heutigen Ausprägungen von Antisemitismus obligatorischer Bestandteil der Aus- und Fortbildung etwa von Lehrerinnen und Lehrern, Polizistinnen und Polizisten, Staatsanwältinnen und Staatsanwälten, Richterinnen und Richtern sein. Gerade in Zeiten, in denen das Denken Ewig-Gestriger immer mehr Köpfe zu erreichen scheint, wird es notwendig sein, immer wieder mit allem Nachdruck und großer Empathie herauszustellen, in welcher Weise jüdisches Leben in diesem Land das Leben von uns allen zu bereichern und bedeutsame kulturelle Impulse zu liefern vermag.
Um Antisemitismus wirkungsvoll zu verhindern, dürfte es von maßgeblicher Bedeutung sein, durch schulische und außerschulische Bildung sowie durch eine konzentrierte Aktion aller zivilgesellschaftlichen Kräfte einen Grundstock zu legen für mehr Respekt gegenüber den Mitmenschen (welcher mehr ist als Toleranz), für neugieriges Interesse an dem (vermeintlich) Anderen und vor allem für eine Zivilcourage, welche – als Grundtugend einer offenen, pluralen und freiheitlichen Gesellschaft – Entsolidarisierungsprozesse und Diskriminierungsvorgänge entlarvt. Auch unter den Bedingungen der Corona-Pandemie darf unser Land nicht schleichend und fahrlässig schlafwandlerisch in eine „Ausgrenzungsgesellschaft“ abgleiten.“
Zum Erscheinungsbild des Antisemitismus in Krisenzeiten äußert sich Enste wie folgt: „Der Grund für Feindseligkeiten gegenüber Jüdinnen und Juden ist eine abgrundtiefe Unkenntnis von deren Leben, verbunden mit einer über Jahrhunderte immer wieder zu verzeichnenden Tendenz, in Zeiten großer sozialer Unsicherheiten und diffuser Überforderungsängste die Schuld für Schlechtes oder Ohnmacht Erzeugendes im Sinne einer Projektion bei einer anderen Bevölkerungsgruppe abzuladen.
Angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche und vielleicht sogar dramatischer globaler Veränderungen - mit mehr Erosion als Bestand, mit mehr Desorientierung als Berechenbarkeit - verstärkt sich der Hang, in einer als hyperkomplex empfundenen Welt neuen Vereinfachungspropheten zu folgen und Probleme durch fatale Projektionen zu lösen. Damit einher geht eine wachsende, durch Überforderung ausgelöste Aggressivität innerhalb unserer Gesellschaft - verbunden mit einer deutlichen Verrohung der Sprache gerade „im Netz“.
Im Hinblick auf die Verbreitung von Antisemitismus im Internet ergänzt Enste abschließend:
„Die im Netz „gepflegte“ Hetze bedient nicht nur alte antisemitische Parolen, sondern bildet letztlich eine schleichende Gefahr für unser demokratisches Gemeinwesen. Die Notwendigkeit zur besonderen Wachsamkeit ergibt sich vor allem aus der Erkenntnis, dass das Internet die schnell potenzierte Verbreitung antisemitischer Darstellungen und Haltungen - mit ihren über Jahrhunderte etablierten Schablonen der Ausgrenzung sowie Stereotypen der Abgrenzung - in bedrohlicher Weise begünstigt. Dessen weitgehende Anonymität enttabuisiert die Wirkung antisemitischer Attitüden. Diesem Phänomen mit achselzuckender Gleichgültigkeit zu begegnen wäre angesichts der historischen Lehre, dass das, was mit Auschwitz endete, mit Worten begann, von geradezu geschichtsvergessener Blauäugigkeit.“
Artikel-Informationen
erstellt am:
09.04.2021
zuletzt aktualisiert am:
29.04.2021
Ansprechpartner/in:
Herr Christian Lauenstein
Nds. Justizministerium
Pressesprecher
Am Waterlooplatz 1
30169 Hannover
Tel: 0511 / 120-5044